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Ernst Köhler
Unvergessen. Über den Reformer Zoran Djindjic
(zum Gedenktag in Konstanz am 20. März 2013)

Die jungen Leute, die dieses Gedenken hier initiiert und gestaltet haben – alle aus Serbien, haben ein Stichwort ausgegeben: keine „Idolatrie“, kein Kult. Erinnerung an den Mann, aber mit Blick auf das Land. Die politische Leistung Zoran Djindjics erschließt sich auch nur, wenn man sie in den Kontext der jüngsten Zeitgeschichte Serbiens stellt, nicht darin versenkt und verschwinden lässt, wie es Holm Sundhaussen, der Doyen der Serbien- Historiografie in Deutschland, in seinem an sich großartigen neuen Buch über „Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011“ (2012) leider tut. Über Djindjic und sein Wirken finden sich hier nur ein paar flache Sätzchen. Aber auch nicht darüber stellt und den visionären, mutigen Politiker irgendwie idealisiert, zum Idol macht oder ins Monumentale oder Messianische emporhebt. Etwa dem heutigen Anlass zuliebe oder auch um der Freundschaft willen.

1.
Ich habe für diesen Beitrag den Band mit Interviews und politischen Texten aus den Jahren 2000 – 2003 wieder gelesen: „Serbien in Europa“ (Tanjug 2004). Sie sind eine wertvolle Quelle für die nüchterne, gleichwohl nicht nivellierende Würdigung des handelnden Politikers Zoran Djindjic. 1999/2000 war er aus meiner Sicht ganz bestimmt unersetzlich für sein Land. Es gab in Serbien keinen anderen Politiker von dieser Risiko- und Handlungsbereitschaft. Aber dann auch an der Regierung - nur gut zwei Jahre! Das muss ich mir selbst immer wieder vorhalten – hatte seine Entschlossenheit, das Land aus der Isolierung herauszuholen, nicht ihresgleichen in Serbien. Seine politische Führung war nach Konsequenz und Zielbewusstsein ein historischer Glückfall – wenn auch ein von vielen im Land unverstandener oder zu spät verstandener. Wer sonst hätte so zu den eigenen Leuten gesprochen – ohne Arroganz, aber auch ohne Schonung und Schönfärberei in die eigene zerrissene, verwirrte, paralysierte Gesellschaft hinein?

Etwas anderes ist das Bild von der serbischen Geschichte, das Djindjic im Kopf hatte. Auch hier der Topos von „den Kriegen, die wir gewinnen und dem Frieden, den wir verlieren“. Auch das Gesamtbild von den Kriegen der 90er Jahre ist bestenfalls schwankend. Es gibt hier luzide Einsichten wie die etwa, dass es ohne Milosevic wohl auch keinen Tudjman gegeben hätte. Aber es gibt auch die apologetische Neigung, die Verantwortung für diese Kriege gleichmäßig auf alle beteiligten Akteure umzuverteilen. Und ob Djindjic in der Kosovofrage über sich selbst und das politische Paradigma der serbischen Elite hinausgewachsen wäre, wenn er am Leben geblieben wäre, steht dahin. Es deutet nichts direkt darauf hin. Es sei denn, man berücksichtigt die grundlegende Tatsache, dass Zoran Djindjic für sein Land eine Politik der realen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung entworfen und begonnen hat – das heißt: eine Politik jenseits der friedensvernichtenden, selbstzerstörerischen Obsession von der „nationalen Frage“.

Kritikpunkte gibt es also genug. Das ist auch nicht weiter überraschend. Kritikpunkte gibt es immer genug. Zoran Djindjic war nicht ganz frei von gelegentlichen Anwandlungen der Selbstüberschätzung wie nach der Bambi-Preisverleihung in Berlin. Er selbst nennt es „Euporie“. Aber das sind nur Momente der Schwäche und der Unausgeglichenheit. Immer wieder spricht er die Grenzen und die Ungewissheit seiner Politik und seines persönlichen Einsatzes ätzend scharf aus. Der Tonfall seiner öffentlichen Stellungnahmen wird immer angespannter, gereizter. Nicht selten scheint er sich am Rande der Müdigkeit, der Erbitterung, der Depressivität zu bewegen. Aber die Tatkraft, der Gestaltungswille überwiegt diese persönlichen Schwankungen. Boris Tadic hat Karadzic und Mladic ausgeliefert. Aber viel zu spät. Die Auslieferung Milosevics 2001 ist damit in ihrer aktuellen Tragweite nicht vergleichbar. Es war ein Durchbruch. Djindjic hat Milosevic, wie er gesagt hat, nicht gegen Geld eingetauscht, gegen Kredite (wie es unsere neunmalklugen Kommentatoren unterstellten), sondern gegen „Glaubwürdigkeit“. Die ungerührte Verteidigung der unvermeidlichen Zusammenarbeit mit den großen Finanzinstitutionen der Welt, mit der Djindjic sich gegen die in Serbien wuchernde, abartige Mischung von ethnozentrischer Wehleidigkeit und Verschwörungstheorie stellt – öffentlich, konfrontativ stellt, ist eine Leistung ersten Ranges. Wenn die Tranchen der in Brüssel bereits fest zugesagten Mittel ausblieben – im byzantinischen Bürokratismus der EU hängen blieben, konnte Djindjic sehr scharf werden. Man denke an das berühmte Spiegel-Interview. Aber bei der Auslieferung des abgesetzten Despoten an das Straftribunal in Den Haag ging es um mehr als Geld. Es ging um das wichtigste politische Kapital, über das diese serbische Regierung verfügte: die Anerkennung, das Vertrauen, den Respekt seitens der maßgeblichen Machtzentren des Westens

2.
Aber lassen Sie mich diesen Lektüreeindruck durch zwei, drei Fragen konkretisieren. Die erste wäre schon: Wie ist der junge Zoran Djindjic überhaupt aus der Gedankenwelt von „1968“, aus der er kam, in die von „1989“ gelangt – also von den hochfliegenden emanzipatorischen Utopien der internationalen Studentenbewegung, speziell in ihrer Belgrader Variante, zur ordinären kapitalistischen Demokratie westlichen Zuschnitts – mit ihren brutalen Schocks und verstörenden Anforderungen, mit ihren neuen Chancen und mit ihren vielen Verlierern? Wie sie überall in Ostmitteleuropa das kommunistische System abschaffte und wie sie Slobodan Milosevic für Serbien um jeden Preis, mit Gewalt und Krieg verhindern wollte. Für diese erst einmal noch theoretische Neuorientierung müssen die Jahre in Frankfurt am Main entscheidend gewesen. Ich erinnere mich an eine nächtliche Diskussion dort über die Soziologie von Niklas Luhmann. Zoran Djindjic war offenkundig fasziniert von diesen Texten. Für mich war Luhmann damals noch ein anmaßender Bürokrat, der sich auf alle soziale Bewegungen draufsetzte und sich über jedes Gerechtigkeitsverlangen zynisch mokierte. Für Djindjic war er ein kreativer Denker moderner gesellschaftlicher Komplexität.

Meine zweite Frage lautet: Wie konnte ein Intellektueller wie Zoran Djindjic, zuerst in Belgrad, dann in Deutschland fein gebildet, in einem nach Kommunismus und Krieg so pauperisierten, politisch deformierten und ideologisch verwüsteten Land wie Serbien nach oben, an die Macht kommen? Aber das ist schon eine Forschungsfrage, die mich überfordert. Pedja Obradovic vom Belgrader Fernsehsender B 92 hat mich kürzlich für seine Dokumentation zum 10. Todestag Zoran Djindjics gefragt, ob ich denn etwas vom politischen Talent und von der späteren politischen Karriere meines jungen Freundes vorausgeahnt hätte? Nein, Fehlanzeige, nichts, ich habe nichts geahnt, nichts gespürt, nichts vorausgesehen. Auch später blieb das so: 1988 oder 1989 bei einem Besuch in Belgrad hatte ich das unbehagliche Gefühl, Zoran habe seinen Kompass verloren. Für uns war damals Ljubljana der Hauptort der genuinen Demokratisierung im zerfallenden Jugoslawien. Belgrad war das Gegenzentrum einer manipulativen, antidemokratischen Massenmobilisierung. Sie beutete nur die nationalistische Umdeutung, Mystifikation der bedrohlichen wirtschaftlichen Rezession in Jugoslawien seit Mitte der 80er Jahre zur existenziellen Gefährdung und Entrechtung der serbischen Nation als Nation aus. Was hingegen Djindjic über die slowenischen Ambitionen sagte, wirkte auf mich eigenartig ressentimentgeladen und feindselig. Bei ihm zuhause tauchten obskure Intellektuelle und Journalisten von der Milosevic-Richtung auf. Wo stand er eigentlich? Kurze Zeit darauf gründete Djindjic zusammen mit anderen dann bekanntlich die Demokratische Partei – damals noch eine andere Partei als heute. Aber das habe ich schon nicht mehr aus der Nähe verfolgt. Erst später hat mir das klassische Buch von Robert Thomas „Serbia under Milosevic“(1999) die Augen geöffnet für den Weg Djindjics durch das steinige Gelände einer fast hoffnungslos zersplitterten Opposition. Es war freilich zugleich das Szenarium eines abbröckelnden, zunehmend delegitimierten Herrschaftssystems. Man versteht den Aufstieg Zoran Djindjics nicht, wenn man den Niedergang Milosevics ausblendet und sein Regime zum übermächtigen, unerschöpflichen Leviathan stilisiert. Mit mindestens totalitärem Zugriff auf die überwältigende Mehrheit der Serben. Das war es nicht einmal bei seinem triumphalen Wahlerfolg von 1990, wie Sundhaussen schön herausarbeitet.

In den Jahren der Kriege habe ich den Kontakt ganz abreißen lassen. Als nichts von ihm kam, kein Laut, kein Protest gegen diese verbrecherischen Kriege, habe ich Zoran Djindjic sogar für mich selbst fallengelassen. Erst 2000/2001, angesichts der jetzt unübersehbaren herausragenden Leistungen, die ja irgendwoher kommen mussten – aus irgendeiner zähen Vorarbeit, aus einem überlegenen politischen Realismus, aus einer großen Idee, ist mir meine mangelnde politische Vorstellungskraft und meine Selbstgerechtigkeit selber zum Problem geworden und ich habe wieder meine Fühler nach Belgrad ausgestreckt.

Man müsste hier zuerst vom 5. Oktober und seiner Vorbereitung sprechen. Das wäre eine dritte Frage. Nicht gleich davon sprechen, was diese Wende eigentlich war und was sie nicht war. Spätestens mit der Ermordung Zoran Djindjics sind die Illusionen darüber zerstoben, was sie war. Ohnehin ist dieser Illusionismus vor allem im Westen kultiviert worden, der gern nicht so genau hinschaut. Zoran Djindjic selbst hat ihn nicht geteilt. Er wusste, mit wem er in der Nacht zum 5.Oktober – im Auto, er allein, der andere in bewaffneter Begleitung - einen abgründig riskanten Deal zur Vermeidung eines Blutbades abgeschlossen hatte. Es musste alles versucht werden, damit der Auftritt der Hundertausenden in Belgrad nicht in einem Massaker durch die Sondereinheiten des Regimes enden würde. Zuallererst wäre vielmehr über etwas anderes zu sprechen – nämlich darüber, wie die Entmachtung Milosevics überhaupt möglich wurde. Hinterher sah es aus, als sei sie unvermeidlich gewesen, notwendig, wie selbstverständlich. Als sei dieser durchtriebene, aber verbrauchte, geistig leere Machthaber vom Baume Serbiens gefallen wie ein fauler Apfel. Aber die Vertreibung von der Macht musste erdacht werden, ehe sie umgesetzt werden konnte. Sie musste erst einmal für möglich gehalten werden, ehe sie wirklich werden konnte. Ein erfahrener, einflussreicher Politiker wie Vuk Draskovic scheint zum Beispiel ganz außerstande dazu gewesen zu sein. Er konnte die konkrete Chance, Milosevic loszuwerden, anscheinend nicht einmal denken: Einen derartigen qualitativen Sprung aus dem kreisenden Einerlei der serbischen Politik. Er konnte sich beim besten Willen nur ein Weiterwursteln unter Milosevic vorstellen. Das war sein Horizont. Eine Perspektive des Immer-Gleichen, aber das Beste daraus machen. Anders Zoran Djindjic, der den spezifischen Moment, den noch verdeckten, noch latenten Ausnahmezustand erfasste und ans Tageslicht zu ziehen wusste. Alles andere war da zweitrangig – auch der eigene Ehrgeiz, auch die Scheinhaftigkeit einer Figur wie der des vermeintlich untadeligen, rechtschaffenen, vertrauenswürdigen Vojislav Kostunica.

3.
Was ist von diesem bedeutenden Mann ohne Zeit, von diesem authentischen Patrioten ohne tragfähige Anerkennung im eigenen Land heute noch übrig, noch präsent in Serbien? Das lässt sich von hier aus kaum angemessen beurteilen. Von hier aus ist aber immerhin zu sehen, dass heute auch noch die giftigsten Chauvinisten von gestern eine pro-europäische Politik machen. Nicht aus freien Stücken, sondern aus politischer Opportunität. Das serbische Wahlvolk hat sie zu der Kehrtwendung gezwungen. Die politische Elite kann auch in Serbien nicht mehr einfach machen, was sie will. Die alten Funktionäre des Milosevic-Regimes, die heute das Land wieder führen, haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die nationalistische Sonderwege nicht mehr will und nicht mehr erträgt. Das sollte den Beobachter aus der Ferne veranlassen, sich dem realen, alltäglichen, arbeitenden und arbeitslosen Serbien zuzuwenden – statt immer nur auf die fragwürdigen Eliten des Landes zu starren. Es ist an der Zeit, die bengalische Beleuchtung über Land und Leuten auszuschalten. Und sie kritisch, aber unbefangen von ihren elementaren Problemen und Überlebensstrategien her zu sehen. Wie Zoran Djindjic es getan hat. Oder wie der scharfsichtige serbisch-ungarische Schriftsteller László Végel aus Novi Sad es tut. Ungeachtet aller Spezifik rückt Serbien dann in den weitergespannten Vergleichshorizont südosteuropäischer Transformationsgesellschaften – mitsamt seinen tiefen, hässlichen populistischen Strömungen, die ja übrigens auch in Westeuropa durchaus nichts Unbekanntes sind. Ich schließe mit einem Zitat aus dem erwähnten Band mit politischen Gebrauchstexten. In seinem „Vorschlag für ein Abkommen über das Staatsziel“ vom März 2001 schreibt Zoran Djindjic: „Wir müssen folgendermaßen vorgehen: zuerst müssen wir die internationalen Kanäle öffnen, über die wir Zugang zum internationalen Kapital- und Technologiemarkt haben und über die wir unsere Wirtschaft für den Weltmarkt öffnen können. Zweitens, wir müssen unsere Gesetze und Institutionen reformieren, um für größere Investitionen attraktiv zu sein. Drittens müssen wir unsere Unternehmen umstrukturieren. Gleichzeitig müssen wir den öffentlichen Dienst, d.h. die Staatsverwaltung, die Polizei, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Fortbildungsmaßnahmen für eine Vielzahl von Beschäftigten, effizienter und leistungsfähiger machen. An erster Stelle steht jedoch ein neuer sozialer Konsens über unser Ziel, das nur durch gemeinsame Bemühungen und auch durch persönlichen Verzicht möglich ist ... Die Zeit des Sparens und des Verzichts ist noch immer nicht vorbei. Nur dass wir dies heute für die Zukunft unserer Familien und unseres Landes tun, und nicht für eine krankhafte Politik und die Privilegien der Machthaber. Der Unterschied besteht auch darin, dass wir heute gute Chancen haben, durch unsere Bescheidenheit eine Gesellschaft entstehen zu lassen, in der niemand mehr auf seine grundlegenden menschlichen und zivilisatorischen Bedürfnisse wird verzichten müssen.“

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