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Ernst Köhler:
Das kleinere Übel und seine stille Anziehungskraft.
Fragen zur amerikanischen Irak-Politik

So verrannt und verrückt es klingt, aber für den täglichen Massenmord im Irak sind die Mörder verantwortlich - nicht die Amerikaner. Verantwortlich sind die miteinander auf den Tod verfeindeten islamischen Religionsgemeinschaften, richtiger: ihre geistlichen Führer und ihre Milizen, nicht die gescheiterten Besatzer. Hierzulande muss man anscheinend erst einmal die Mörder hinter den Amerikanern hervorziehen. Den Abzug verlangt auch niemand im Ernst. Auch die US-amerikanischen Demokraten nicht, die gerade eine Wahl gewonnen haben – nicht zuletzt über das Irak-Thema, aber ohne zu sagen, was sie im Irak anders machen wollen.

Erst wenn man auf maßlose und demagogische Schuldvorwürfe verzichtet, kann man über die reale politische Verantwortung der Bush-Regierung im Irak vernünftig nachdenken. Das kritische Kernargument lautet: Sie hätten wissen können, sie hätten wissen müssen, auf was sie sich da einlassen. Die USA sind eine Weltmacht – wenn sie es nicht wissen, wer dann? Wenn man in einem Land wie dem Irak das Herrschaftssystem beseitigt, muss man unbedingt auch die Macht und die Mittel haben, das so geschaffene politische Vakuum zu meistern und zunächst einmal die Sicherheit der betroffenen Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Sonst muss man es eben lassen. Das große Amerika hat diese Macht und diese Mittel offenkundig nicht. Das große Amerika – oder vielmehr seine zur Zeit maßgebliche Führungselite – hat sich diese unbegrenzte Gestaltungsmacht nur eingebildet. Und die Menschen im Irak haben für diese Hybris, diese Selbstüberhebung der Supermacht heute schwer zu bezahlen.

Zumindest der „Religionskrieg“ von heute mit seinen mächtigen Geistlichen, die in Wahrheit Warlords sind, war kaum vorauszusehen. Diese hochgefährliche „religiöse“ Potenzierung, Entfesselung, Entartung des Kampfes um politische Macht und um die Verfügung über das irakische Öl ist brandneu. Das Phänomen ist in seiner außerordentlichen Virulenz nicht einmal richtig verstanden – wie sollte es vorhersehbar gewesen sein? Aber klare Fehlleistungen der amerikanischen Regierung – und insbesondere ihres bisherigen Verteidigungsministers – waren etwa das von Anfang an zu geringe Truppenaufgebot, die ersatzlose Auflösung der irakischen Armee, die unerträgliche Schutzlosigkeit vor allem der Krankenhäuser unmittelbar nach der Besetzung.

Aber Fehler und Versäumnisse solcher konkreten, fasslichen, benennbaren Art sind unseren Kriegsgegnern nicht genug. Die bei uns vorherrschende Kritik an der amerikanischen Irak-Politik ist umfassender angelegt. Sie bezieht alles ein, was sich an destruktiven Kräften im Irak inzwischen entwickelt hat. Und was andererseits an staatlichen Institutionen bisher im Land neu aufgebaut worden ist, wertet sie ebenso konsequent ab. Auf diese Weise erscheint die militärische Intervention im Irak nicht nur als unbedacht, schlecht geplant und halbherzig durchgeführt, sondern als eine Unternehmung jenseits aller politischen Vernunft.

Wenn also die Amerikaner in ihrem imperialen Machbarkeitswahn oder auch, nach einer anderen Denkschule, aus geopolitischem Egoismus den Irak in einen menschenverschlingenden, zivilisationszerstörenden Abgrund verwandelt haben, wäre das Regime Saddam Husseins dann das „kleinere Übel“ gewesen? Auch das sagt niemand laut, jedenfalls nicht bei uns hier – anders als im Fall von Tito-Jugoslawien, das sich im Licht der Katastrophe der 90er Jahre nicht selten unverfroren rehabilitiert sah und sieht (etwa von dem hochangesehenen linken Historiker Eric J. Hobsbawm). Keine Kritik am Irak-Krieg - und sei sie noch so rigoros, die es unterließe, auch das menschenverachtende Regime Saddams grundsätzlich zu verurteilen. Zwei Grundsätzlichkeiten auf einmal also – oft in einem Atemzug vorgebracht. Aber es nützt nichts, die beiden radikalen Verdikte kommen sich gegenseitig in die Quere.

Ehrlicher wäre es, den hohen Preis für die eigene Position ungerührt auf den Tisch zu legen. Vor die Wahl gestellt zwischen einer Demokratisierungsstrategie für die Golfregion und den Nahen Osten und irgendeinem „realpolitischen“ Arrangement mit jener mörderischen Diktatur andererseits, hätten wir uns für das Arrangement entscheiden sollen? Notgedrungen und nach reiflicher Überlegung wären wir für den status quo gewesen. In der Hoffnung natürlich, dass er sich schrittweise zum Besseren wandelt – wir sind keine Zyniker. Aber auf absehbare Zeit geben wir der politischen Stabilität in diesem Raum den Vorzug vor jeder von außen und mit Gewalt herbeigeführten Reformdynamik. Auch wenn diese Stabilität auf einer Repression und Entrechtung großen Stils beruht und viel von einem Kirchhofsfrieden hat.

Es ist dies ebenfalls eine Entscheidung, und keine unproblematische. Auch sie wäre auf Kosten der Iraker gegangen. Um sie als solche zu erkennen, müsste sie freilich auf das rassistische Gerede von der Unübertragbarkeit der Demokratie auf Arabien verzichten. Denn wenn die Demokratie sich nur für uns eignet, nicht auch für die Araber, dann ist unser Votum für Stabilität um jeden Preis keine politische Entscheidung. Dann ist es die reine Weisheit, und wir haben sie gepachtet.

In einem Stück des ungarischen Autors István Eörsi fragt sich eine Figur: „Wenn wir nur zwischen zwei Übeln wählen können, bezeichnen wir das kleinere Übel als gut. Ist das richtig? Ich glaube, ja. Aber was geschieht, wenn sich von dem kleineren Übel herausstellt, dass es unerträglich ist?“ Für den Irak muss es sich nicht mehr herausstellen. Es hat sich schon längst herausgestellt. Nur ist die Unerträglichkeit bereits Geschichte – für uns, nicht für die Opfer und ihre Angehörigen. Auch der Prozess gegen Saddam Hussein hat sie uns nicht mehr vergegenwärtigen können. Das macht es so leicht für uns.

„Für den Massenmord im Irak sind die Mörder verantwortlich, nicht die Amerikaner.“ (E. Köhler)
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