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Ernst Köhler befragt Benno Ennker

Die Wahrheit dennoch nicht zum Schweigen gebracht
Nachdenken über den Mord an Anna Politkovskaja

Der Mord an der weltbekannten russischen Journalistin Anna Politkovskaja hat bei uns eine besondere und anhaltende Betroffenheit hervorgerufen. Benno Ennker ist Osteuropahistoriker an der Hochschule St. Gallen und an der Universität Tübingen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Sowjetgeschichte. Aber er ist auch ein Kenner des gegenwärtigen Rußlands. Die Fragen stellte Ernst Köhler.

Könnten Sie die journalistische Leistung Anna Politkovskajas in Tschetschenien umreißen?

Anna Politkovskaja war Mitarbeiterin der Zeitung „Novaja Gazeta“, in der sie – ebenso wie in Menschenrechts-Medien – ständig berichtet hat. Sie hat außerdem eine Reihe von Büchern mit Berichten vor allem über das Krebsgeschwür des Tschetschenienkrieges sowie ein Buch über Putins mächtigen Geheimdienstapparat, die Brutalitäten und die Korruption in der Armee, die Käuflichkeit der Justiz- und Staatsverwaltung, die Entrechtung von ganzen Bevölkerungsgruppen geschrieben.


Wie beurteilen Sie ihre auf deutsch vorliegenden Bücher?

Ich kenne ihre beiden Bücher „Tschetschenien . Die Wahrheit über den Krieg“ (2003) und „In Putins Rußland“ (2005), die beide faktengesättigte Zustandsbeschreibungen sind. Sie sind in einer menschlich packenden Art geschrieben, in der sich das Talent einer großen Journalistin zeigt. Vor allem hat angerührt, wie diese Frau mitten unter die leidenden Menschen geht und mich als Leser an ihren Erfahrungen teilhaben läßt. Zugleich sind dies Geschichten, von denen man nicht glauben möchte, daß sie möglich sind – in denen aber die Verantwortlichkeiten genau benannt werden. Anna Politkovskaja ist wiederholt mit Preisen durch die Russische Journalistenunion als auch in New York „für mutigen Journalismus“ geeehrt worden.


Woran hat sie zuletzt gearbeitet?

In ihrem letzten Interview, das sie mit „Radio Free Europe“ am 5.10. 2006, also zwei Tage vor ihrer Ermordung, führte, hat sie folgendes über ihre Erkundungen in Tschetschenien gesagt: „Eben jetzt habe ich zwei Photos auf meinem Schreibtisch. Ich führe eine Untersuchung über die Folter heute – heute und gestern – in Kadyrovs (Ministerpräsident Tschetscheniens) Gefängnissen durch. Das sind Menschen, die von Kadyrov-Leuten (seiner persönlichen Miliz) aus völlig unerklärlichen Gründen entführt wurden und die dann zu Tode kamen.“ Es gibt Kommentare, in denen daraus Rückschlüsse auf die Mörder gezogen werden. Jedenfalls hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch am 13.11.2006 einen Bericht vorgelegt, der feststellt, daß sowohl Sicherheitskräfte, die dem tschetschenischen Ministerpräsidenten Ramsan Kadyrov unterstehen, als auch Angehörige des russischen Innenministeriums systematisch Gefangene foltern.


Können Sie uns etwas über die Arbeitszusammenhänge sagen, in denen diese herausragende Journalistin stand – etwa über die Zeitung, für die sie schrieb?


Die „Novaja Gazeta“ ist eine liberale, für die Menschenrechte engagierte Zeitung, die in striktem Oppositionskurs gegen das Regime Putin steht. Sie gehört zu den wenigen, an einer Hand abzählbaren unabhängigen Zeitungen und erscheint gerade zweimal in der Woche. Mit ihren Enthüllungsreportagen über menschenverachtende Polizeimethoden überall in Rußland und über die Bereicherungen der Statthalter Putins findet sie eine Leserschaft, die in den letzten Jahren von 130 000 auf 170 000 angewachsen ist. Sie ist an den Kiosken in Moskau zu kaufen oder auch im Internet zu lesen. Ihre lakonisch-bittere Sprache ist typisch für Stimmung und Ausdrucksweise kritischer Journalisten im heutigen Rußland.


War Anna Politkovskaja eigentlich auch in Rußland prominent?


Wieviele Leser sie speziell hatte und wie prominent sie war, vermag ich nicht zu beurteilen. Sie hat 2001 den Preis der Russischen Journalistenunion bekommen. Das dürfte schon die Behauptung Putins widerlegen, sie sei in Rußland eigentlich unbekannt gewesen. Sie war bekannt und moralisch anerkannt genug, um bei der Geisel-Tragödie von Beslan 2004 als Vermittlerin gerufen zu werden; bevor diese in der Katastrophe endete, mußte sie wegen einer geheimnisvollen Vergiftung ihre Anreise abbrechen.


Es ist bekannt, wie Präsident Putin auf den Mord reagiert hat. Aber wie hat die russische Öffentlichkeit, wie haben die Medien in Rußland reagiert?


Soweit ich es von hier aus verfolgen konnte, wurde über den Mord breit berichtet. Allerdings schien mir eine auffällige Zurückhaltung spürbar, wenn es darum ging, über die Drahtzieher nachzudenken. Über Spuren, die in die Korridore der Lubjanka, dem Amtssitz des russischen Geheimdienstes FSB, führen könnten, mag man lieber nicht laut nachdenken. Das wird eher über die Tat eines „Extremisten“ spekuliert.


Wie bewerten Sie die Chancen und die Ressourcen der Meinungsfreiheit in Rußland heute?


Wir haben seit Putins Machtübernahme erlebt, wie die wichtigsten Fernsehkanäle – das sind für 85% der Bevölkerung die wichtigsten Massenmedien – unter staatliche Kontrolle gebracht wurden. Seit der Entmachtung der „Oligarchen“ sind neben dem Fernsehen auch die zentralen Zeitungen mehr und mehr dem Zugriff des Kremls ausgesetzt. Dieser setzt seit einiger Zeit besonders die Kaufkraft des Gas-Monopolisten „Gasprom“ ein, um auch die Presselandschaft durch eine eigene Medienmacht zu prägen. Zudem werden Journalisten auch häufig durch angedrohte Strafverfahren „zur Raison“ gebracht. Man hat gegenwärtig 45 solcher Fälle pro Jahr gezählt, in den 90er Jahren waren es 10. Ressourcen für die Meinungsfreiheit bestehen meines Erachtens in dem hohen journalistischen Berufsethos, das seit Perestrojka- und Glasnost-Zeiten immer noch in Rußland gepflegt wird. Noch gibt es eine gute Zahl von NGOs, die für die Meinungsfreiheit eintreten. Allerdings geht in den Redaktionen in diesen Wochen die Angst um: Allein bei Journalisten der „Novaja Gazeta“ sind jetzt wieder zwei Morddrohungen eingegangen. Seitdem Putin im Jahr 2000 Präsident wurde, hat man 13 Journalistenmorde gezählt – sämtlich unaufgeklärt, ebenso wie viel häufigere lebensgefährliche Überfälle „zur Warnung“. Rußland gilt als das drittgefährlichste Land für Journalisten, nur noch übertroffen vom Irak und von Algerien (Committee to Protect Journalists, CPJ).


Weiß man unterdessen mehr, als daß es ein politischer Auftragsmord war?


Wenn man nach dem Motiv und folglich möglichen Auftraggebern fragt, wird man viele Seiten mit Namen vollschreiben können. Leute, die Anna Politkovskaja oft mit Namen als Täter in Tschetschenien benannt hat. Die reichen vom Präsidenten Putin bis zu irgendeinem Offizier der Sondereinsatztruppen. Nein, Putin wird wohl keinen Mordbefehl gegeben haben.


Woher könnte der Befehl gekommen sein?


Wir stellen uns die Szene zu einfach vor, wenn wir nach einer Verbindungslinie von „Befehl und Gehorsam“ suchen, bei der es relativ einfach ist, den Verantwortlichen zu finden. In einem politischen System, in dem es ein staatliches Monopol legitimer Gewalt gibt, ist solche Verantwortlichkeit eindeutig zu fixieren – ein ordentliches Gerichtssystem vorausgesetzt. Bei uns muß ein Justizminister dafür gerade stehen, wenn in einem seiner Gefängnisse ein Zelleninsasse von seinen Mitgefangenen umgebracht wird, wie dies neulich in Schleswig Holstein geschehen ist. In Rußland ist dies kaum vorstellbar. Beides gibt es dort heute nicht, keine unabhängigen Gerichte und kein Monopol der Staatsgewalt. Es gibt eine Staatsgewalt und eine Elite aus den Gewalt-Apparaten, die heute herrscht und die sich auf ausgemachte Gewalt-Seilschaften stützt. Die werden besonders seit dem Tschetschenienkrieg am mehr oder weniger lockeren Zügel geführt. Denn niemand will für ihre Verbrechen verantwortlich sein. Aber in diesen Kreisen weiß man auch, wie man jemandem einen „Gefallen“ tun kann. Die Staatsgewalt ist nach unseren Begriffen am unteren Ende „ausgefranst“, da will die rechte Hand zuweilen nicht wissen, was die linke tut. Und wenn sie es weiß, wird sie sie nicht belangen. Im Internet gibt es längst Todeslisten von „Volksfeinden“, auf den Anna Politkovskaja bereits stand.


In welchem öffentlichen Klima sind denn diese und andere Mordtaten möglich?


Wenn Sie heute in Rußland im Fernsehen Nachrichten und Reportagen hören, fällt ein Mord wie der an Anna Politkovskaja beinahe nicht mehr auf. Gewaltverbrechen, hinter denen – zumindest von liberalen Zeitungen – oft auch politische Drahtzieher vermutet werden, ebenso wie Morde aus geschäftlichen Konkurrenzkämpfen, Totschlag durch Polizeiorgane oder auch nur demonstrative Polizeibrutalität von Miliz und Sondereinsatzkräften in Aktion und die mordgeile Zurschaustellung von Leichen tschetschenischer Terroristen und angeblicher „Terroristen“ haben schon zu einer Brutalisierung und Verrohung der Öffentlichkeit geführt, wie wir sie uns – selbst mit unseren täglichen Todesraten mit Opfern aus dem Nahen Osten und dem Irak – kaum vorstellen können.


Wird man jemals herausfinden können, wer den Auftrag gegeben hat?


Nein, man wird aus all den Gründen kaum je den Auftraggeber für den Mord an Anna Politkovskaja herausfinden.

Der Historiker Benno Ennker
Anna Politkovskaja
DuMont Verlag, Köln 2005
ISBN 3832179194,
Gebunden, 314 Seiten, 19,90 EURO

Klappentext:

Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme. Die russische Bevölkerung folgt mehrheitlich der präsidialen Propaganda, die westlichen Staatsmänner praktizieren Männerfreundschaft. Alle Kritik an Putins Kurs, vor allem gegenüber der tschetschenischen Bevölkerung, die mittlerweile um ein Viertel dezimiert ist, verhallt ungehört. Anna Politkowskaja, Russlands bekannteste Journalistin, die bei der versuchten Berichterstattung über die Geiselnahme im kaukasischen Beslan zum Ziel eines Anschlags wurde, erhebt ihre kritische Stimme: eindringlich und warnend. Sie beschreibt den mächtigen Apparat des Geheimdienstes, dem Putin entstammt; die unerträglich brutalen und korrupten Verhältnisse in der Armee und in einer käuflichen Justiz; die Oligarchen-Mafia in der Industrie; das bestechliche Geflecht aus Nomenklatura und Zentralverwaltung; die zunehmende Rechtlosigkeit von ganzen Bevölkerungsgruppen und den neuen russischen Rassismus. In Russland ist Stabilität eingekehrt, in beängstigender Form, mit einem zynischen Vladimir Putin, der über Leichen geht, an der Staatsspitze. Schärfer kann die Diagnose nicht ausfallen, die Anna Politkowskaja in ihrer Reportage "In Putins Russland" stellt.

DuMont Verlag, Köln 2003
ISBN 3832178325,
Kartoniert, 336 Seiten, 16,90 EURO

Klappentext:

Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme. Mit einem Vorwort von Dirk Sager. Mit Fotos, Porträts, einem Glossar und Dossiers. Dieses Buch berichtet vom Schicksal der Menschen in Tschetschenien, von den Opfern des Krieges. Es ist ein "J'accuse". In drei Teilen beschreibt dieses Buch den Krieg: Es berichtet von dem Leben der Tschetschenen im Krieg, den Übergriffen auf die Zivilbevölkerung, von einem Alltag, in dem Folter, Hinrichtungen, Plünderungen und Entführungen an der Tagesordnung sind. Die Autorin analysiert welche Auswirkungen dieser Krieg auf das Leben in Russland selbst hat, wie ein Rassismus gegen alles Nicht-Russische zunimmt. Und schließlich beschreibt sie die Interessen der neuen "Generalsoligarchen", die an der Fortführung dieses Krieges, dem illegalen Handel mit Erdöl und Waffen verdienen.

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